Der Vorfall ist historisch belegt: Am 16. Oktober 1906 kommandiert der mehrfach vorbestrafte Schuster Wilhelm Voigt in einer beim Pfandleiher erstandenen Hauptmannsuniform zwölf Soldaten des IV. Preußischen Garderegiments nach Köpenick in der Hoffnung, die Ausstellung des langersehnten Ausweises erzwingen zu können. Er lässt den Bürgermeister verhaften und nimmt, als er feststellt, dass kein Passamt vorhanden ist, die Stadtkasse an sich.
Carl Zuckmayers deutsches Märchen, 1931 in Berlin uraufgeführt, offenbart diesen Voigt als eine arme, von den Behörden herumgestoßene Kreatur: Er benötigt, um Arbeiten zu können, eine Aufenthaltserlaubnis, die ihm jedoch erst ausgestellt werden kann, wenn er einen Arbeitsplatz nachweisen kann ein unlösbares Dilemma.
Matthias Hartmann hat die beste Komödie der Weltliteratur seit Gogols Revisor, so Thomas Mann, im Februar 2004 am Schauspielhaus Bochum inszeniert mit Otto Sander in der Titelrolle. Es ist ein rasanter Tanz auf dem Vulkan, der auf der immer heftiger rotierenden Drehbühne um das Brandenburger Tor (Bühne: Bernhard Kleber) das in Hannover geborene Berliner Urgestein umgibt: Das Bochumer Ensemble zieht alle Register zwischen Döblin-Atmosphäre (Berlin Alexanderplatz) und Brecht-Revue (Live-Musik: Karsten Riedel).
In Adolf Wormsers Uniformschneiderei (Paraderollen für Franz Xaver Zach auch als Schuhfabrik-Prokurist Knell sowie Fabian Krüger als Wormser-Sohn Willy) verharren Soldaten als pantomimische Kleiderständer, Maria Happel (am Premierenabend für die erkrankte Angelika Richter eingesprungen) gibt die ordinäre Plörösenmieze mit Berliner Schnauze, Alfred Herms lässt als Zuchthausdirektor (mit Zellen wie DDR-Arbeiterschließfächer) Schlachtaufstellungen nachspielen, im Köpenicker Rathaus des Bürgermeisters (Felix Vörtler in seinem Element) herrscht Pantoffelzwang und nicht nur Su Bühlers Kostüme, sondern auch manche entlarvenden Textbrüche und Extempores, etwa zur aktuellen Berliner Reformpolitik, schlagen einen zeitlichen Bogen von Zuckmayer bis heute.
Das alles changiert drei kurzweilige Stunden lang zwischen subversiv und klamottig, wobei die üblichen Verdächtigen, neben den genannten vor allem Marcus Kiepe, Andre Meyer und Martin Horn, dem Affen reichlich Zucker geben. Dieser ironisch-verfremdete und solchermaßen durchaus hintergründige Komödienstadl mit reichlich Berliner Lokalkolorit bettet Otto Sander in ein wie gewohnt bestens disponiertes Bochumer Ensemble ein.
Er muss keine Rolle spielen, schon gar nicht die seines Lebens, er ist einfach da, mit faltigem Gesicht, mit hängendem Schnauzbart und ebensolchen Schultern, mit ruhiger, bisweilen geradezu versteinerter Mimik, sparsamster Gestik und seiner unvergleichlich rauen Stimme. Eine gedemütigte, erbarmungswürdige Kreatur, ein verzweifelter Spielball der Bürokratie auf der einen Seite. Auf der anderen ein wacher, kühl kalkulierender Underdog, der Preußens Militarismus mit den eigenen Waffen schlägt. Und am Ende, über sein Spiegelbild, über den Erfolg seiner Maskerade staunend, in Lachen und Weinen ausbricht.
Pitt Herrmann, Sonntagsnachrichten Herne
Vorankündigung im „Spiegel“: SPIEGEL_2004_05_29787378
Regie: Matthias Hartmann
Autor: Carl Zuckmayer
Bühne: Schauspielhaus Bochum